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WENN KINDER NICHT MEHR LEBEN WOLLEN

Jeder vierte Schüler in Deutschland zeigt psychische Auffälligkeiten - Doch wie können Eltern eine Depression erkennen?

Wangen - Florian wollte sich schon umbringen, als er in der Grundschule war. Florian heißt eigentlich anders, aber für die Zeitung hat er sich diesen Namen ausgedacht. So kann er offen über seine Geschichte sprechen. Er wurde gemobbt, empfand keine Freude und lachte kaum. 
Der schwäbische Junge wurde psychisch gequält von schwäbischen Mitschülern. Sie verspotteten ihn, grenzten ihn aus, versteckten seine Sachen, machten Fotos von ihm im Schwimmunterricht und verbreiteten sie in sozialen Medien. Florian litt so sehr daran, dass er Überdosen seiner Tabletten gegen ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom – ohne Hyperaktivität) einnahm und verschimmeltes Brot aß, um Bauchschmerzen zu erzeugen. So konnte er dem Schwimmunterricht fernbleiben.  
  
Spricht Florian über die Schule, kommen ihm Tränen der Wut und Traurigkeit. Blickkontakt hält er nur kurz. Treffen sich die Blicke während des Interviews, sind sie tief und ehrlich. Er sitzt auf einem Sofa in der Rehabilitationsklinik für Kinder und Jugendliche in Wangen/Allgäu und will, dass Kindern wie ihm mehr Hilfe, Akzeptanz und Bewusstsein zukommt. Er will, dass jeder Mensch ein gutes Leben hat. „Nicht so eins wie ich es führe. Ich fühle nur Schmerz, Trauer und Angst. Das Leben ist so kurz. Man sollte es genießen. Ich habe jeden Tag im Bett nur geheult. Das Einzige, was mich gefreut hat, war, wenn der Schultag vorbei war.“  
  

Mobbing ist trauriger Alltag

 
Florian ist inzwischen 14 Jahre alt und geht in die achte Klasse. Mobbing erlebte er immer wieder, auch in der weiterführenden Schule. „Weil ich der Schwächste bin“, meint er. Jetzt ist er wegen Depressionen in der Kinder- und Jugend-Reha. „Ich habe diese Phasen, in denen ich nicht mehr leben will, keine Freude und keinen Spaß empfinde. Jetzt bin ich auf dem Weg, wieder ein normaler Junge zu werden, der lachen kann und nicht nur Angst hat.“  
  
In Deutschland zeigt jedes vierte Schulkind psychische Auffälligkeiten. Das geht aus dem „Kinder- und Jugendreport 2019“ der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) hervor. Zwei Prozent der Kinder zwischen zehn und 17 Jahren leiden an einer diagnostizierten Depression und ebenso viele unter Angststörungen. Laut der Studie sind davon bundesweit rund 238000 Kinder und Jugendliche betroffen. Viele von ihnen haben Probleme im Schulalltag: Totalüberforderung, völlige Blockade, innere Kündigung, Fernbleiben vom Unterricht oder auch die tägliche Qual, den Schulalltag mit den Mitschülern zu überstehen. Probleme, die Eltern, Lehrer und Schulsozialarbeiter oft überfordern.  
  

Genetische Vorbelastung + Stress

 
„Eine Depression ist eine Erkrankung“, sagt Chefärztin Nora Volmer-Berthele. „Wir wissen immer noch nicht genau, wie sie entsteht. Aber wir wissen, dass eine genetische Vorbelastung plus Stressor wie Umzug, Pubertät oder Trennung der Eltern eine depressive Episode auslösen kann.“  
  
Die Wangener Rehabilitationsklinik hat 150 Plätze für Kinder und Jugendliche, die zwischen vier und acht Wochen bleiben. Voraussetzung ist eine chronische Erkrankung mit einer Dauer von mindestens sechs Monaten. Hauptkostenträger ist die Deutsche Rentenversicherung. Die Besonderheit der Klinik ist eine angegliederte Schule, in der Kinder wieder Vertrauen und Freude im Schulalltag finden sollen. „Ich habe immer jüngere Kinder, die immer weniger zur Schule gehen. Das beginnt schon bei Klasse 1“, sagt Reha-Schulleiter Stephan Prändl. „Bei uns geht es darum, Kinder wieder an den Schulalltag zu gewöhnen.“ Gemeinsam mit Experten trainieren die Kinder den Umgang mit ihrer Krankheit, entwickeln individuelle Bildungswege und lernen, mit Stress, Konflikten und eigenen Defiziten umzugehen.  
  

Kurzzeitige Verstimmung oder echte Depression?

 
Eine vorübergehende Verstimmung von einer Depression zu unterscheiden, ist nicht einfach. Da Lehrer im Alltag meist mehr Zeit mit den Kindern verbringen als die Eltern, sind sie besonders wichtige Bezugspersonen und sollten eng mit den Eltern zusammenarbeiten, wenn der Verdacht aufkommt, es könne sich um Depressionen handeln. Die Diagnostik aber gehört in die Hände von Fachärzten. „Es gibt zurückgezogene, nachdenkliche Kinder. Diese sind aber nicht zwingend depressiv – wenn sie immer so sind. Wir müssen nah an unseren Kindern dran sein, um das zu unterscheiden“, sagt die Chefärztin.  
  

Wenn sich das Verhalten schlagartig ändert

 
Ein Alarmzeichen sei immer eine schlagartige Veränderung des Verhaltens. Bei Kleinkindern heißt das: plötzliche Spielunlust, vermehrtes Weinen, verringerter Appetit, verändertes Schlafverhalten, Aggressivität, Fantasielosigkeit. Typisch für depressive Grundschulkinder sei, dass sie Schlafstörungen haben, schwer aus dem Bett kommen, plötzlich keine Freude mehr empfinden, grübeln, sich leer, traurig, antriebslos und müde fühlen. „Ab dem 13. Lebensjahr spielt der Sinn des Lebens eine Rolle“, sagt Volmer-Berthele. Die Frage nach dem eigenen Lebensmodell und Sinn sei zwar normal für Pubertierende. Aber ein Depressiver bezweifle, ob sein Leben überhaupt Sinn macht. „Wenn sich gesunde Jugendliche zu Hause abgrenzen, tun sie das nicht gleichzeitig auch im Sport, in der Freizeit, im Verein und in der Schule. Bei Depressiven passiert es in allen Bereichen auf einmal, es herrschen Kraftlosigkeit und Leere.“ Warnzeichen seien auch Veränderungen der schulischen Leistung und Mitarbeit.  
  

Offen über Suizidgedanken sprechen

 
Erster Ansprechpartner beim Verdacht auf Depressionen ist der Kinderarzt, der das Kind schon lange kennt, Veränderungen wahrnehmen und mögliche körperliche Ursachen ausschließen kann. Denn auch eine Schilddrüsenerkrankung kann Auslöser für Stimmungsschwankungen und Konzentrationsschwierigkeiten sein. Dieser muss zur richtigen Zeit über die nächsten Schritte wie ambulante Therapie, Medikation oder stationären Aufenthalt entscheiden. Ratsuchende finden auch bei Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, Caritas- und schulpsychologischen Beratungsstellen, Schulsozialarbeitern und Beratungslehrern Unterstützung. „Wenn es ganz akut wird, mein Kind vor mir steht und sagt, ,ich will mich umbringen und weiß auch schon ganz genau wie‘, dann ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Weißenau zuständig. Das muss man sehr ernst nehmen“, sagt die Chefärztin. „Viele Eltern haben Sorge, Suizidgedanken anzusprechen, weil sie denken, damit lösen sie diese Gedanken erst aus. Untersuchungen zeigen: Dem ist nicht so. Es ist gut, offen darüber zu sprechen.“  
  
Die Reha als Intensivmaßnahme sei ein Teil der Behandlungskette, sagt Reha-Schulleiter Prändl. „Wir haben die Aufgabe, für das Kind Wege zurück in die Normalität zu finden und kümmern uns um die Frage: Wie bringe ich meine individuellen Voraussetzungen in Einklang mit meinem Lebensweg?“ Neben der Schul- und Berufsberatung gehöre dazu auch, Vorschläge für die Heimatschule zu entwickeln – zum Beispiel, dass betroffene Kinder mehr Zeit für eine Prüfung bekommen oder in einen extra Raum dürfen, um krankheitsbedingte Nachteile ausgleichen und trotzdem die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln. „Sechs Wochen nach der Rückkehr in die Heimatschule fragen wir nach, wie es dem Kind geht. In achtzig Prozent der Fälle hören wir, dass die Reintegration gut läuft.“  
  
Das hofft auch Florian. In der Reha wird er nicht gemobbt. „Man fühlt sich nicht mehr hilflos. Man kann wieder lachen“, sagt er. Florian wünscht sich, dass gegen all jene etwas unternommen wird, die Mobbing betreiben – weil es schon genug Kinder gibt, die sich das Leben genommen haben.  
  
 
Artikel aus: Schwäbische Zeitung, Rubrik GESUND & FIT, Samstag, 04. Januar 2020, von Tanja Schuhbauer 
Veröffentlicht am: 08.01.2020  /  News-Bereich: Aus unseren Kliniken
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