DOKUMENTATIONSWAHN
Ärzte aus dem Kreis Ravensburg schlagen Alarm wegen zu viel Bürokratie
Isny - Ärzte und Pfleger wollen eigentlich Patienten helfen. Doch dafür bleibt immer weniger Zeit.
Wer Medizin studiert oder sich für einen Beruf in der Krankenpflege entscheidet, will Menschen helfen, gesund zu werden. Aber Ärzte und Pfleger beklagen, dass sie immer weniger Zeit für ihre Patienten haben und stattdessen immer aufwendiger dokumentieren müssen, was sie tun. Welche Ausmaße die Bürokratie im Gesundheitswesen mittlerweile angenommen hat, schildern zwei Chefärzte, ein Pflegedienstleiter und der Geschäftsführer der Waldburg–Zeil–Kliniken (WZK) im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Es ist ein erschreckender Befund, den die Führungskräfte des privaten Klinikbetreibers mit Sitz in Isny ausstellen: Zwischen 30 und 50 Prozent ihrer Arbeitszeit gehe für Papierkram drauf. Artur Hatzfeld, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie der WZK in Isny, und Christian Duncker, Chefarzt für Onkologie der WZK in Aulendorf, schildern das für die Reha-Ärzte: Zunächst einmal müssten diese nach Aufnahme eines neuen Patienten teils hunderte Seiten lesen, die Hausärzte, Kollegen an Akutkrankenhäusern oder Fachärzte sowie sozialrechtliche Akteure, etwa die Arbeitsagentur, ihnen häufig zusammenhanglos zukommen lassen.
Manchmal sind das nur Krankschreibungen des Hausarztes aus mehreren Jahren oder Befunde, die sich immer wieder wiederholen, aber es könnten ja auch wichtige Informationen in der dicken Akte stecken, erklärt Hatzfeld den Zwang, die gesamte Vorgeschichte der Patienten lesen zu müssen. Beim Aufnahmegespräch, das 45 bis 60 Minuten dauere, sehe der Facharzt dann häufig den Patienten am längsten. In den Wochen darauf dann hier und da noch mal kurz in der Sprechstunde oder bei einer Visite, den meisten Kontakt hätten Reha–Patienten aber mit Therapeuten oder Psychologen. Der „Dokumentationswahn“, wie es WZK–Geschäftsführer Ellio Schneider nennt, stehe jedoch in keinem Verhältnis zum kurzen Kontakt des Arztes mit dem Patienten. Etwa 14 Seiten umfasse der Arztbericht und spätere Entlassungsbericht für die Kostenträger. Dabei würden für das weitere Leben des Patienten eigentlich wenige Punkte reichen, die auf ein Din–A4–Blatt passen: Wie lautet die Diagnose und Prognose? Kann er wieder arbeiten, soll er weiter krankgeschrieben werden oder wird eine Frührente vorgeschlagen? Welche Medikamente muss er nehmen? Welche weitere Therapie wird empfohlen?
Die aufwendige Dokumentation jedes noch so kleinen Behandlungsschrittes im ärztlichen und pflegerischen Alltag dient dabei nicht nur der Kommunikation mit dem jeweiligen Kostenträger (Rentenversicherung oder Krankenkasse), sondern sie muss auch gerichtsfest sein, wenn einmal ein Kunstfehler im Raum steht oder ein Kostenträger den Erlös reduzieren will, was häufiger vorkomme, als man denkt.
Letzteres liege hauptsächlich am Fallpauschalensystem. Beispielsweise muss für die Entwöhnung von einer Beatmung — gerade zur Zeit der Corona–Pandemie eine häufige Behandlung der Fachkliniken Wangen — für die Abrechnung eine Mindestanzahl an Stunden der Beatmung vorangegangen sein. „Angenommen, es fehlt eine halbe Stunde, kann das nicht abgerechnet werden, sodass man den Patienten theoretisch länger beatmen müsste, um die Entwöhnung bezahlt zu bekommen, obwohl das medizinisch gar nicht notwendig wäre“, beschreibt Pflegedienstleiter José Rädler einen krassen Fehlanreiz im Fallpauschalensystem.
Anderes Beispiel: Allein die Beantragung eines Reha–Aufenthaltes sei heute so aufwendig und mühevoll, dass viele Fachmediziner oder Krankenhausärzte sie scheuen würden. Hatzfeld: „Deshalb kommen viele, die es eigentlich nötig hätten, gar nicht in Reha.“ Duncker, Hatzfeld und Rädler meinen übereinstimmend, dass der bürokratische Aufwand zum einen mit der Einführung der Fallpauschalen vor etwa 20 Jahren stark angestiegen sei, zum anderen durch die strengen Datenschutzregeln.
Als neu aufgenommener Patient müsse man sich erst einmal durch einen Dschungel von Verträgen durcharbeiten, in denen man alles Mögliche zur Kenntnis nehmen oder eine Einwilligung erteilen müsse, weil die jeweilige Klinik oder der behandelnde Arzt sich absichern müssten. Auch das ein Haufen zusätzlicher Arbeit vor allem für die Arztsekretariate.
Schlimm sei zudem die „Misstrauenskultur“, die sich in Deutschland breitgemacht habe, meint Hatzfeld. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen würde alles bis ins kleinste Detail kontrollieren, ständig sehe man sich dem Verdacht ausgesetzt, „jemand anderen übers Ohr hauen zu wollen“ und müsse sich für einzelne Behandlungsschritte rechtfertigen. Es geht aber niemand ins Gesundheitswesen, um Dokumentationsprofi zu werden, sagt der promovierte Psychiater, der gerade bei den Medizinern, die Karriere machen, eine zunehmende Entfremdung von der Arbeit am Patienten sieht.„Eigentlich haben Chefärzte doch die meiste Erfahrung und müssten deshalb ganz nah beim Patienten sein und Assistenzärzten etwas beibringen“, sagt er. Doch je höher der Posten, desto mehr Schreibtischarbeit sei zu bewältigen.
Geschäftsführer Schneider sieht die Lösung für das Bürokratie–Dilemma im Gesundheitswesen darin, von anderen europäischen Ländern zu lernen. „Es wäre doch viel einfacher, Standards festzulegen, und dann nur noch das zu dokumentieren, was davon abweicht“, meint er. So würde es viele skandinavische und südeuropäische Länder handhaben. Zudem rechnet er vor, dass der Fachkräftemangel schnell passé wäre, wenn die Ärzte und Pfleger sich voll und ganz den Patienten widmen könnten. Von der Arbeitszufriedenheit mal ganz abgesehen.
Doch nicht nur Ärzte an Akutkrankenhäusern und Reha–Kliniken leiden unter überbordender Bürokratie. Auch Haus– und Fachärzten wird diesbezüglich immer mehr zugemutet, klagen viele.
Artikel aus: Schwäbische Zeitung, Ausgabe RV, Isny, vom 22.4.2023.
Auf der Suche nach der wichtigen Info im Aktenhaufen
Es ist ein erschreckender Befund, den die Führungskräfte des privaten Klinikbetreibers mit Sitz in Isny ausstellen: Zwischen 30 und 50 Prozent ihrer Arbeitszeit gehe für Papierkram drauf. Artur Hatzfeld, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie der WZK in Isny, und Christian Duncker, Chefarzt für Onkologie der WZK in Aulendorf, schildern das für die Reha-Ärzte: Zunächst einmal müssten diese nach Aufnahme eines neuen Patienten teils hunderte Seiten lesen, die Hausärzte, Kollegen an Akutkrankenhäusern oder Fachärzte sowie sozialrechtliche Akteure, etwa die Arbeitsagentur, ihnen häufig zusammenhanglos zukommen lassen.
Manchmal sind das nur Krankschreibungen des Hausarztes aus mehreren Jahren oder Befunde, die sich immer wieder wiederholen, aber es könnten ja auch wichtige Informationen in der dicken Akte stecken, erklärt Hatzfeld den Zwang, die gesamte Vorgeschichte der Patienten lesen zu müssen. Beim Aufnahmegespräch, das 45 bis 60 Minuten dauere, sehe der Facharzt dann häufig den Patienten am längsten. In den Wochen darauf dann hier und da noch mal kurz in der Sprechstunde oder bei einer Visite, den meisten Kontakt hätten Reha–Patienten aber mit Therapeuten oder Psychologen. Der „Dokumentationswahn“, wie es WZK–Geschäftsführer Ellio Schneider nennt, stehe jedoch in keinem Verhältnis zum kurzen Kontakt des Arztes mit dem Patienten. Etwa 14 Seiten umfasse der Arztbericht und spätere Entlassungsbericht für die Kostenträger. Dabei würden für das weitere Leben des Patienten eigentlich wenige Punkte reichen, die auf ein Din–A4–Blatt passen: Wie lautet die Diagnose und Prognose? Kann er wieder arbeiten, soll er weiter krankgeschrieben werden oder wird eine Frührente vorgeschlagen? Welche Medikamente muss er nehmen? Welche weitere Therapie wird empfohlen?
Kostenträger drücken sich manchmal vor der Bezahlung
Die aufwendige Dokumentation jedes noch so kleinen Behandlungsschrittes im ärztlichen und pflegerischen Alltag dient dabei nicht nur der Kommunikation mit dem jeweiligen Kostenträger (Rentenversicherung oder Krankenkasse), sondern sie muss auch gerichtsfest sein, wenn einmal ein Kunstfehler im Raum steht oder ein Kostenträger den Erlös reduzieren will, was häufiger vorkomme, als man denkt.
Letzteres liege hauptsächlich am Fallpauschalensystem. Beispielsweise muss für die Entwöhnung von einer Beatmung — gerade zur Zeit der Corona–Pandemie eine häufige Behandlung der Fachkliniken Wangen — für die Abrechnung eine Mindestanzahl an Stunden der Beatmung vorangegangen sein. „Angenommen, es fehlt eine halbe Stunde, kann das nicht abgerechnet werden, sodass man den Patienten theoretisch länger beatmen müsste, um die Entwöhnung bezahlt zu bekommen, obwohl das medizinisch gar nicht notwendig wäre“, beschreibt Pflegedienstleiter José Rädler einen krassen Fehlanreiz im Fallpauschalensystem.
Anderes Beispiel: Allein die Beantragung eines Reha–Aufenthaltes sei heute so aufwendig und mühevoll, dass viele Fachmediziner oder Krankenhausärzte sie scheuen würden. Hatzfeld: „Deshalb kommen viele, die es eigentlich nötig hätten, gar nicht in Reha.“ Duncker, Hatzfeld und Rädler meinen übereinstimmend, dass der bürokratische Aufwand zum einen mit der Einführung der Fallpauschalen vor etwa 20 Jahren stark angestiegen sei, zum anderen durch die strengen Datenschutzregeln.
Als neu aufgenommener Patient müsse man sich erst einmal durch einen Dschungel von Verträgen durcharbeiten, in denen man alles Mögliche zur Kenntnis nehmen oder eine Einwilligung erteilen müsse, weil die jeweilige Klinik oder der behandelnde Arzt sich absichern müssten. Auch das ein Haufen zusätzlicher Arbeit vor allem für die Arztsekretariate.
Je höher der Posten, desto unbefriedigender die Arbeit
Schlimm sei zudem die „Misstrauenskultur“, die sich in Deutschland breitgemacht habe, meint Hatzfeld. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen würde alles bis ins kleinste Detail kontrollieren, ständig sehe man sich dem Verdacht ausgesetzt, „jemand anderen übers Ohr hauen zu wollen“ und müsse sich für einzelne Behandlungsschritte rechtfertigen. Es geht aber niemand ins Gesundheitswesen, um Dokumentationsprofi zu werden, sagt der promovierte Psychiater, der gerade bei den Medizinern, die Karriere machen, eine zunehmende Entfremdung von der Arbeit am Patienten sieht.„Eigentlich haben Chefärzte doch die meiste Erfahrung und müssten deshalb ganz nah beim Patienten sein und Assistenzärzten etwas beibringen“, sagt er. Doch je höher der Posten, desto mehr Schreibtischarbeit sei zu bewältigen.
Geschäftsführer Schneider sieht die Lösung für das Bürokratie–Dilemma im Gesundheitswesen darin, von anderen europäischen Ländern zu lernen. „Es wäre doch viel einfacher, Standards festzulegen, und dann nur noch das zu dokumentieren, was davon abweicht“, meint er. So würde es viele skandinavische und südeuropäische Länder handhaben. Zudem rechnet er vor, dass der Fachkräftemangel schnell passé wäre, wenn die Ärzte und Pfleger sich voll und ganz den Patienten widmen könnten. Von der Arbeitszufriedenheit mal ganz abgesehen.
Doch nicht nur Ärzte an Akutkrankenhäusern und Reha–Kliniken leiden unter überbordender Bürokratie. Auch Haus– und Fachärzten wird diesbezüglich immer mehr zugemutet, klagen viele.
Artikel aus: Schwäbische Zeitung, Ausgabe RV, Isny, vom 22.4.2023.
Veröffentlicht am: 24.04.2023 / News-Bereich: News vom Träger